Im Jahr 1923, also vor fast 100 Jahren, ereignete sich in Berlin eine zutiefst berührende Geschichte, die erst Jahre später bekannt wurde. In der Blütezeit der Weimarer Republik kam es, ganz im Stillen, zu einem eindrucksvollen Akt der Nächstenliebe. Folgendes war geschehen:
Im Stadtpark Steglitz saß ein kleines Mädchen und weinte voller Verzweiflung. Ein ihr unbekannter Mann sah dies und fragte besorgt, was sie bedrücke. Das Mädchen sagte, es habe seine geliebte Puppe verloren.
Der Mann wollte das Mädchen um jeden Preis trösten. Deshalb sagte er: „Deine Puppe macht nur gerade eine Reise, ich weiß es, sie hat mir einen Brief geschickt.“
Das Kind war erst ungläubig und fragte, woher er das wissen könne und ob er den Brief dabeihabe. Der Mann antwortete: „Nein, ich habe ihn zu Hause liegen lassen, aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.“ Dann ging er nach Hause. Dort setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb den Brief der Puppe.
Der Mann nahm diese Aufgabe unwahrscheinlich ernst, er wollte das Mädchen auf gar keinen Fall enttäuschen. Intensiv arbeitete er daran, einen glaubwürdigen und tröstenden Brief zu verfassen.
Am nächsten Tag traf er sich mit dem Kind im Park und las ihr das Werk vor. Darin berichtete die Puppe davon, dass sie auf Reisen gegangen sei, weil sie eine Luftveränderung gebraucht habe, und sie verspreche, dem Mädchen jeden Tag zu schreiben.
Und genau das tat der Mann. Jeden Tag schrieb er einen Brief, der von den neuesten Abenteuern der Puppe erzählte. Von der Schule, von neuen Freunden, von ihren Reisen. Und davon, dass sich ihre Lebensumstände so verändert hätten, dass sie vorerst nicht ins gemeinsame Leben mit dem Mädchen zurückkehren könne.
Diese Briefe, diese Geschichte, erarbeitete der fremde Mann so lange, bis das Mädchen auf den endgültigen Verzicht der Puppe vorbereitet war. Tatsächlich konnte das Kind den Verlust bald verkraften und freute sich vielmehr auf die spannenden Berichte seiner „Freundin“.
Mindestens drei Wochen lang schrieb der Mann diese Briefe. Er hatte große Angst vor dem Ende, davor, die Geschichte nicht vernünftig zum Schluss führen zu können. Schließlich ließ er die Puppe heiraten und schilderte auch dies in allen Details, von der Verlobung bis zur Hochzeit. So konnte ein plausibler Abschluss geschaffen werden und das Mädchen konnte den Verzicht seines Lieblings freudig verkraften.
Dieser fremde Mann war niemand Geringeres als Franz Kafka, einer der berühmtesten deutschsprachigen Schriftsteller. Er setzte sein Talent mit bewundernswerter Energie dafür ein, einem kleinen Mädchen die Tränen zu trocknen.
Kafkas Lebensgefährtin Dora Diamant erzählte die Geschichte lange nach seinem Tod. Die Briefe und das Mädchen konnten bis heute leider nicht ausfindig gemacht werden. Immerhin hat der Autor und Kafka-Forscher Jürg Amann einen Band mit den fiktiven Briefen der Puppe herausgegeben („Die Briefe der Puppe“, 2011). So kann man zumindest eine Idee davon bekommen, wie sie ausgesehen haben könnten.
Vorschaubild: © Flickr/simpleinsomnia